Die Siedlung und ihr Denkmal
Die Selbsthilfe-Siedlung
Die Entstehung und Entwicklung der Selbsthilfe-Siedlung Neundorf (Anh.)
Am 8. Februar 1919 hatte der Gemeindevorstand von Neundorf eine Einwohnerversammlung einberufen, in der er auf den drängenden Wohnungsmangel hinwies. Im Vortrag wurde unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass die Gesundheits- und Sittlichkeitsverhältnisse in der Gemeinde aufgrund des Wohnungsmangels den Höhepunkt erreicht hätten. Es mussten dringend energische Schritte zur Linderung der Wohnungsnot unternommen werden.
Der Hintergrund des Wohnungsmangels
Der Wohnungsmangel war ein Resultat der vollständigen Niederlage der gewerblichen Bautätigkeit während der Kriegsjahre und der unmittelbaren Nachkriegszeit. Während vor dem Ersten Weltkrieg in Neundorf jährlich etwa sechs bis acht neue Wohnungen gebaut wurden, betrug der Ausfall durch die Kriegs- und Nachkriegsjahre bereits 48 Wohnungen. Zudem kam die zunehmende Heiratssucht der jungen Generation hinzu, die eine eigenständige Wohnung verlangte. Diese Forderungen konnten durch gesetzliche Regelungen nicht eingedämmt werden. Es musste dringend eine Lösung gefunden werden, die sowohl den Gesundheits- als auch den Sittlichkeitsanforderungen gerecht wurde.
Der Weg zur Lösung: "Selbsthilfe"
Die Antwort auf das drängende Problem lag in der sogenannten "Selbsthilfe". Es war eine Zeit, in der die Gemeinschaft selbst Verantwortung übernehmen musste. Die Siedler, viele von ihnen ehemalige Soldaten, die während des Krieges oft in unterirdischen und improvisierten Unterständen lebten, wollten nun für ihre Familien sichere und stabile Heime in der Heimat bauen. Der Gemeindevorsteher Gustav Klaue, ein entschlossener Mann, der das Vorhaben leiten sollte, wusste, dass es schwierig sein würde, inmitten der hohen Baukosten und der wirtschaftlichen Unsicherheiten eine Lösung zu finden.
Zudem war es klar, dass die staatlichen Baukostenzuschüsse aufgrund der Inflation entwertet worden waren. Ein genauer Blick auf die wirtschaftliche Lage und die Ergebnisse von Siedlungen in anderen Orten zeigte jedoch, dass es möglich war, die Herausforderung durch eine Zusammenarbeit der Siedler und eine kluge Bauweise zu meistern.
Die Gründung der Bau- und Siedlungsgenossenschaft
Am 20. Februar 1919 wurde die „Bau- und Siedlungsgenossenschaft Selbsthilfe e.V. Neundorf“ gegründet. Ziel war es, unter der Leitung von Gustav Klaue als Vorsteher und Geschäftsführer eine Siedlung zu errichten, die den Bedürfnissen der Arbeiterfamilien gerecht wurde. Die Genossenschaft setzte auf Selbsthilfe: Alle Arbeiten sollten von den Siedlern selbst ohne Lohn erbracht werden, um die Kosten zu senken. Statt teurer Mauersteine wurde ein innovativer „Stampfbeton“ aus Steinkohleschlacke, Kies und Zement verwendet, um die Baukosten zu minimieren.
Die Planung und Umsetzung des Projekts wurde tatkräftig von Fachleuten wie dem Landesbaumeister Galander und dem Baurat Gross unterstützt. Es gab jedoch viele Rückschläge und Verzögerungen, unter anderem aufgrund der Wirtschaftslage und der unzureichenden staatlichen Zuschüsse.
Der Bauprozess: Gemeinsame Anstrengung
Trotz der vielen Schwierigkeiten war die Motivation der Siedler ungebrochen. Gemeinsam, mit Unterstützung der Gemeinde und unter der Leitung von Gustav Klaue, begannen sie, die notwendigen Materialien zu beschaffen und die ersten Schritte auf dem Weg zum eigenen Heim zu unternehmen. Es wurde eine Feldbahn eingerichtet, um die Materialien zu den Baustellen zu transportieren. Frauen und Kinder halfen tatkräftig beim Entladen und Transportieren der Materialien.
Die Siedler, obwohl sie nach ihrem achtstündigen Arbeitstag oft erschöpft waren, arbeiteten zusammen und halfen sich gegenseitig. Die Gemeinschaft wuchs nicht nur durch die Häuser, die nach und nach errichtet wurden, sondern auch durch die tiefe Bindung zwischen den Siedlern, die sich als Nachbarn und Kameraden unterstützten.
Der Grundstein für das Siedlungsprojekt wurde schließlich am 29. September 1920 gelegt. Die symbolische Bedeutung dieses Ereignisses wurde durch eine Urkunde und Münzen in einer Steinpyramide am Schnittpunkt des Neundorfer – Rathmannsdorfer Weges und des Güsten – Leopoldshaller Feldweges bekräftigt.
Herausforderungen und Rückschläge
Die Arbeit war nicht immer einfach und wurde von Neidern und Kritikern begleitet, die versuchten, den Siedlern ihre Zuversicht zu nehmen. Doch die Siedler blieben unermüdlich und furchtlos in ihrem Vorhaben. Das Ziel war klar: ein Zuhause für die eigene Familie, in dem sie in Würde leben konnten.
Durch den Einsatz von „ungelohnter Arbeit“ und die Unterstützung der Gemeinde sowie einiger großzügiger Spenden wurde das Projekt schließlich realisiert. Statt der ursprünglich geplanten 36 Einfamilienhäuser wurden 36 Zweifamilienhäuser errichtet. Dank der Hilfe von Gott, dem Fleiss der Siedler und der tatkräftigen Unterstützung durch den Gemeindevorsteher konnte das Projekt abgeschlossen werden, ohne dass die zuvor bewilligten Darlehen in Anspruch genommen werden mussten.
Das Richtfest und die Einweihung
Am Vorabend des Dankfestes 1921, nach der Fertigstellung des letzten Hauses, wurde das Richtfest gefeiert. Zahlreiche Ehrengäste, darunter der Staatsminister Dr. Weber, der Kreisdirektor Günther und viele weitere lokale Persönlichkeiten, nahmen an der Feier teil. Der Bau der Siedlung Neundorf wurde als ein Paradebeispiel für die Selbsthilfe und die Gemeinschaftskraft gefeiert.
Die Gesamtkosten des Projekts beliefen sich auf 3.494.782 Mark 70 Pfennig, eine enorme Summe zu jener Zeit. Doch trotz der finanziellen Herausforderungen zeigte sich der Erfolg: Die Siedler hatten sich ihren Traum von einem eigenen Heim erfüllt.
Ein Denkmal der Erinnerung
Zur Erinnerung an die Gründer und besonders an den unermüdlichen Einsatz des Gemeindevorstehers Gustav Klaue wurde ein Denkmal errichtet. Es trägt die Inschrift:
„Den Erbauern zur Ehre, den Nachkommen zur Lehre, dem Bürgermeister Gustav Klaue zum Danke 1920–1922.“
Dieses Denkmal wurde zum 100-jährigen Jubiläum der Siedlung im Jahr 2022 aufwendig restauriert und ist heute ein bedeutendes Wahrzeichen in Neundorf.
Die Siedlung heute: Ein Ort der Geschichte und Erinnerung
Im Rahmen der Erinnerungsarbeit an die Entstehung der Siedlung Neundorf wurde nicht nur das Denkmal restauriert, sondern auch ein kultureller Akzent gesetzt: Eine Sonderstempelstelle wurde eingerichtet, die es Besuchern ermöglicht, einen Stempel als Andenken an die Geschichte der Siedlung zu sammeln. Der Stempel zeigt das Gustav-Klaue-Denkmal und erinnert an die Geschichte und die Gemeinschaft der damaligen Zeit.
Diese Sonderstempelstelle ist nicht nur ein Ort der Erinnerung, sondern auch ein Symbol für die Werte, die die Siedlung Neundorf auszeichnen: Gemeinschaftssinn, Engagement und der unermüdliche Einsatz für das Wohl der Familie und der Gemeinde.
Fazit
Die Entstehung der Siedlung Neundorf ist ein beeindruckendes Beispiel für den Kraftakt einer Gemeinschaft, die sich unter schwierigsten Bedingungen zusammenraufte, um eine Zukunft für ihre Familien zu sichern. Mit Mut, Fleiß und einer starken Gemeinschaftsbindung wurde das Projekt zu einem Erfolg – und das, was in den 1920er Jahren begann, hat bis heute Bestand. Neundorf ist nicht nur ein Ort des Wohnens, sondern ein lebendiges Denkmal der Solidarität, des deutschen Fleißes und der Beharrlichkeit.
